Im Reisebus von Freiburg nach Shanghai – auf der Seidenstraße um die halbe Welt
6Jun/10Off

Wolfram Goslich: Route 312 – Going east!

Seit 3 Wochen bin ich in einem Roadmovie unterwegs. Ein Film, der meist nur nachts Pausen kennt. Und wie das bei so Dauermovies ist, behält man sich nicht jede einzelne Szene im Kopf, aber viele Sequenzen. Der rote Faden, um die Szene  wiederum einordnen zu können, ist die Route 312, die Fernstraße von der kasachischen Grenze bei Korgas bis nach Shanghai, von hier auf direktem Weg 4.569 Kilometer entfernt. Auf der sind wir seit fast 2 Wochen unterwegs.

So stimmt in den folgenden Szenen meist die Chronologie, die Filmszenen sind ein kleiner Ausschnitt aus dem Erleben eines Landes zwischen kirgisischer Steppe und ostchinesischem Meer.

Aus der Ferne sehen wir zahlreiche Sattelschlepper auf einem Parkplatz stehen, in der Regel ein untrügliches Zeichen dafür, dass man dort gut essen kann. Wir halten an, Che bestellt Essen für alle, im Restaurant gibt es keinen Strom, es kratzt im Hals, die meisten von uns müssen husten, es wird mit Kohle geheizt und gekocht.

Eine dieser typischen flachen, weißgekachelten Schnellbauten, wie sie an jeder Straße, in jedem Dorf an unserer Route zu sehen sind; die im Sommer die Hitze nicht fernhalten und im Winter kaum Schutz vor der Kälte bieten.

Herr Wang und seine Frau Li haben eine zauberhafte vierjährige Tochter, die mit unseren Reisegästen spielt. Die Kleine ist ganz begeistert, Kinder können sich so einfach verständigen. Verena, unsere Theaterfrau aus Freiburg, unterhält sich mit ihr, alles ganz kinderleicht. Die Küche ist wie immer hervorragend. Ungläubiges Staunen bei ganz wenigen, die die fein geschnittenen Kartoffelstreifen zunächst für Nudeln halten, Li zeigt uns, wie es geht. Mit der Sicherheit und Eleganz einer Sterneköchin hackt sie die Kartoffeln in ganz feine Streifen, die sie in kochendem Wasser nur kurz gart, um sie mit leicht angedünstetem Gemüse und ein paar scharfen Chilischoten zu servieren.

Vor 15 Jahren kam sie mit ihrem Mann aus Sichuan hierher, um sich eine Existenz aufzubauen. Es hat lange gedauert, hier mit einem kleinen Fernfahrerrestaurant Fuß zu fassen. Sie werden bald wieder gehen müssen. Auf der Fernstraße 312, wo sie bis heute immer noch kein Strom haben, werden bald keine Autos mehr fahren. Wenn die neue Autobahn von Shanghai bis an die kasachische Grenze eröffnet wird, ist es die grüne Leitplanke der Autobahn, die sie von ihrer Existenz trennt – hier kann kein LKW mehr halten, sie sind abgeschnitten und müssen wieder irgendwo anders von Neuem beginnen.

Es ist heiß, auch nachts und immer noch morgens. Aus meinem Hotelfenster schaue ich auf die staubigen Dächer der umliegenden Hütten. Beschwert mit Latten, Grasmatten und Blechen sehe ich dort jede Menge Leben. Ganze Familien schlafen auf den Dächern. Die großen Holzbetten, die Kangs, werden im Frühjahr nach oben geschleppt und es ist ein ganzes Stadtviertel, was dort oben den Tag beginnt. Zwei junge Männer putzen sich die Zähne, beobachten dabei ihre Tauben, die im Verschlag direkt neben den Betten leben. Ein kleiner Junge kümmert sich ganz liebevoll um seine kleine Schwester, die noch etwas schläfrig in die Welt schaut. Er sucht ihren Kopf zärtlich nach irgendwelchem Ungeziefer ab. Eine halbe Etage tiefer räkelt sich der ältere Bruder auf einem blauen Tuch, dreht sich um und schläft weiter, während die Nachbarin an der gegenüberliegenden Dachkante frische Maulbeeren pflückt und genussvoll verzehrt. Ich sehe halbverschleierte Frauen, die die Betten machen, Kinder wuseln um sie herum. Im Hof darunter sitzt ein alter Mann und trinkt seinen Tee. Vor seiner Tür auf der Straße sind Schüler auf dem Weg zur Schule, nicht wenige davon in Schuluniform.

Bei aller Idylle: Ich frage mich, wie die Menschen das hier im Winter bei minus 20°C machen, oft sind in den Fenstern nur Plastikfolien gespannt, wo wir normalerweise eine Doppelverglasung haben. Von Hygiene will ich gar nicht groß sprechen, das Viertel von oben betrachtet, sieht großenteils wie ‚ne staubige Müllkippe aus. Und wir wohnen direkt nebenan in einem Hotel, das wir als nicht sonderlich komfortabel bezeichnen – zu Recht. Aber ein Blick aus dem Fenster genügt, um die Messlatte zu überdenken.

Land des Widersinns, heißt es. Zwei Straßen weiter eine nagelneue unterirdische Ladenpassage mit blitzenden Rolltreppen, dann so ‘ne Art Mediamarkt im Kellergeschoß mit allem elektronischem Kram, den man braucht oder - wenn man nicht ganz blöd ist -, vor allem nicht braucht. Klimaanlage surrt, Kaufhausmusik… Ohne die chinesischen Schriftzeichen könnte es auch Castrop-Rauxel oder Bratislava sein. Globale Langeweile!

Die Flaniermeile Turfans eingerahmt von riesigen Werbeplakaten, auf denen meist westliche oder europäische Models für Klamotten Werbung machen. Darunter flanieren junge muslimische Frauen. Mir kommt eine junge Chinesin entgegen. Sie schaut nur ganz leicht irritiert in die Kamera, als ich sie ablichte. Sie trägt ein blaues T-Shirt mit einem Spruch in Gelb: Romeo fuck Juliet! 

Braun bis gelb, das sind die beherrschenden Farbtöne dieser Tage. Schwarz kommt noch hinzu, wir durchqueren die schwarze Gobi, ein riesiges Wüstengebiet. Selten tauchen grüne Pappelreihen auf. Pappeln sind in Nord- und Westchina die am meisten auftretende Baumart. Aber hier eben nur sehr selten. Hami ist eine Wüstenstadt wie vorher schon Turfan. Auf den ersten Blick den anderen Städten sehr ähnlich, die immergleichen Wohnsilos, breite Alleen, die in die Stadt hineinführen, meist gesäumt von hellgrünen Baumreihen, die in den letzten Jahren ganz gezielt angepflanzt werden um die zunehmende Versteppung Westchinas aufzuhalten.

Vor dem ersten Kreisverkehr von den Ausmaßen eines Flugvorfelds stehen endlose Reihen von Lastzügen. Hier werden die berühmten knallgelben Hami-Melonen verladen. Jetzt sind es immerhin schon riesige Wassermelonen, die auf den Feldern rund um Hami wachsen, gespeist mit Wasser aus den nahen Bergen, die auch jetzt noch, Anfang Juni, schneebedeckt den Horizont nach Norden einrahmen.

Dorthin zieht es uns. Wir verlassen die staubige Ebene für einen Tagesausflug in die Berge am Barköl-See. Die Straße läuft schnurgerade auf eine tief zerklüftete, dunkelbraune Bergkette zu, riesige von Wind geformte Steinquader säumen kurz die Straße, bevor wir im Bus auf einer lang gezogenen Straße in ein enges Gebirgstal hineinfahren. Und hier die Landschaft immer schöner, die Straße immer enger, immer katastrophaler. Noch schlechter als vor zwei Jahren. Tiefe Löcher, teilweise nur noch welliger Schotter, dazwischen Baustellen, vor denen sich die LKWs gegenseitig wie bei einem Rodeo überholen, alles in Staub gehüllt, jetzt bloß schnell die Smogtaste drücken, damit im Bus nicht noch alle anfangen zu husten. Für den Bus eine Strapaze, für mich letzten Endes auch: Permanentes Navigieren, wie mit einem Öltanker ständig ‘ne neue Fahrrinne suchen, weil es jede Menge Untiefen gibt.

Auf der Hochebene deutlich kühler, aber angenehm. Einsam steht ein Mann im roten Jackett mit einem Koffer an der Straßenkreuzung und wartet auf einen Bus, gegenüber haben ein paar Uiguren ein Lager aufgeschlagen, ich weiß nicht, ob die dort auf jemanden warten, wir fahren jedenfalls weiter hinauf auf die Hochebene und genießen eine Stunde in der Einsamkeit auf ausgedehnten Bergwiesen, auf denen weiße und violette Blumen wachsen und Schafe zwischen Telegrafenmasten vor dem schneebedeckten Panorama des Karlik-Shan-Gebirges weiden. 

Romantisch ist wirklich nur den Name – Sternenschlucht! Schlucht ja, alles im Staub, Sterne eher weniger, wenn man mal von den LKWs mit dem kopierten Stern aus Stuttgart absieht, die zu Dutzenden auf dem LKW-Rastplatz direkt an der Provinzgrenze zwischen Xinjiang und Gansu stehen.

Hier wird gegessen, getankt, Reifen gewechselt, Öl gewechselt, Fernfahrer waschen sich mit Wasser aus ausgedienten Ölfässern, im Schatten eines Aufliegers putzt sich ein anderer die Zähne. Es ist heiß und staubig, auf der anderen Straßenseite dröhnen Presslufthämmer auf einer Baustelle, ständig rangieren Lastzüge in Parklücken rein und raus, Unmengen Staub werden aufgewirbelt. Vor dem kleinen Restaurant steht ein Eimer mit Kartoffeln, die darauf warten, geschält zu werden, so lange werden sie schon mal in Dieseldunst vorgeräuchert.

Luftfilter, Bierbüchsen, Klopapier, Metallteile und jede Menge gesplittertes Glas, der Untergrund fast jeden Rastplatzes - man muss aufpassen, wo man hintritt. Vor der Reifenbude steht ein LKW, Reifenwechsel hinten links, der Fahrer putzt die Frontscheibe, der Kollege füttert die drei wirklich edel aussehenden Pferde, die hinten auf der Ladefläche stehen.

Wir verlassen die Road 312 nach Lanzhou und biegen in südlicher Richtung nach Dunhuang, einer ehemaligen Karawanserei am Rande der Sandwüste, ab. Die Straße zwingt uns, maximal 55 bis 60 km/h zu fahren, egal, wir haben Zeit.

Brütende Hitze, weit und breit kein Dorf, kein Haus, nur Geröll und ab und zu verdörrte Steppengrasbüschel. Am Horizont eine Silhouette. Ein Baum, ein Verkehrsschild? Nein, jemand wandert auf der Straße Richtung Süden, in Richtung nirgendwo. Er hat warme Sachen dabei und er trägt einen Plastiksack. Wir sind schon vorbei ,als uns einfällt: Er sammelt wahrscheinlich Plastikflaschen, 1Kilo, 1 Yuan. Wir halten und stellen ihm den Sack mit unseren gesammelten Plastikflaschen direkt an die Straße. 300 Meter weiter halten wir noch einmal. Uns ist eingefallen: Er braucht bestimmt auch Wasser. So stellen wir ihm noch eine gut gekühlte Wasserflasche auf den Weg. Nach etlichen Kilometern wird uns klar, dass er in jedem Fall in der Wüste wird übernachten müssen, es tauchen einfach keine Häuser auf. Was für ein Land! Nagelneue Offroad-Fahrzeuge brettern über die Sanddünen von Dunhuang, keine 30 Kilometer entfernt laufen Menschen alleine durch die Wüste, um die Plastikflaschen, die Autofahrer ganz selbstverständlich aus dem Fenster schmeißen, aufzusammeln und vielleicht ein paar Yuan zu kassieren.

Wir sind in Dunhuang. Kurzer Ausflug zum Essen in die Stadt mit einem gemieteten Fahrrad. Das Rad an sich ist gar nicht so schlecht, aber eben für chinesische Kunden gebaut. Und da sind die wenigsten 1,90 m groß. Sightseeing per Fahrrad ist einfach genial! Nie anstrengend,  sehr kommunikativ und wenn man mal ‘ne falsche Ecke erwischt, ist man auch schnell wieder weg.

Ich komme zurück zum Bus. Und wieder das vertraute Bild: Ein paar Einheimische stehen vor dem Bus und lassen sich davor fotografieren. Und ganz ehrlich: Er ist ja auch ein Hingucker! Da kann sich so mancher Busunternehmer in Deutschland ein Beispiel dran nehmen, wie die Fläche eines Busses mit Farbe, Design und Schriftzug Passanten animiert, stehenzubleiben. Manche Unternehmer nehmen wohl immer noch den Großvater mit ins Design Center zur Auswahl eines 50er Jahre Schriftzugs und den öden Blautönen des Sozialamts Berlin-Wedding auf der Außenhaut des „Sowieso-Liners“.

In jedem Fall kommen wir immer schnell ins Gespräch, weil natürlich alle wissen wollen, „woher“, „wohin“, „was denn, von Deutschland bis nach Shanghai?”

An der Rezeption hole ich den Schlüssel und mir fällt auf, dass die Damen an der Rezeption so häufig englische  Namen haben, eine heißt Erica, dann die Wendy, Susan ist auch da und dann noch Helen. „Ist das Zufall?“, frage ich und Helen antwortet: „Nein“, wir haben uns die Namen ausgedacht und so ist es für europäische Gäste leichter uns anzusprechen.

Na denn, good morning China!

 Wolfram Goslich

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Kommentare (0) Trackbacks (0)
  1. Wenn wir nicht schon drei von diesen wunderbaren Geschöpfen hätten, würden wir jetzt gerne das Mädchen mit dem gelben Shirt und der „passenden“ Cap adoptieren – diese Kinder erzählen die größten Geschichten des unfassbaren Lebens! Mehr davon!!!!! ;-))

  2. Liebe Chinareisende,

    so viel gibt es zu lesen über Schlaglöcher und Schlagbäume, über die Anforderungen an die Chauffeure, dass ich euch auf diese „Heimatnachricht“ aufmerksam machen möchte:
    http://www.badische-zeitung.de/kirchzarten/so-kommt-ein-vag-bus-durch-den-kuhstall#kommentare
    Viele Grüße und schöne Reise!
    IH


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